Der Atomausstieg Deutschlands – ein Stück in vorerst sieben Akten

1. Akt – die Anfänge der Anti-Atomkraft-Bewegungen

Die friedliche Nutzung der Kernspaltung als (vermeintlich) sichere, umweltfreundliche und effiziente Art der Stromerzeugung begann in den 1950er Jahren. Schon Anfang der 1970er wurden die Attribute „sicher“ und „umweltfreundlich“ von den Atomkraftgegnern infrage gestellt. Letztendlich bildeten die Atomkraftgegner in Deutschland die wichtigste Keimzelle einer neuen, mittlerweile etablierten parlamentarischen Kraft – der Grünen.

Ihre Kritik war anfangs „nur“ durch physikalische Fakten wohlbegründet. Spätestens mit dem Reaktorunfall in Tschernobyl 1986 erhielt sie ihre drastische praktische Bestätigung.

2. Akt – der Atomkonsens aus dem Jahre 2000

Nachdem Rot-Grün 1998 Regierungsverantwortung übernommen hatte, wurde der Atomausstieg zu einem zentralen politischen Anliegen. Der im Jahre 2000 erstmals formulierte Atomkonsens bestand darin, dass Deutschland sich mittelfristig von der Atomkraft verabschiedet. Der Weiterbetrieb der in Betrieb befindlichen AKW wurde an Reststrommengen geknüpft. Abschaltungen sollten erfolgen, sobald die betreffende Anlage das ihr zugewiesene Kontingent erreicht hatte.

3. Akt – der Ausstieg vom Ausstieg

Was unter der 2005 bis 2009 regierenden Großen Koalition nicht möglich war, wurde von der Schwarz-Gelben Nachfolgeregierung zeitnah eingeleitet; der Ausstieg vom Ausstieg oder im Beamtendeutsch formuliert die Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke. Älteren AKWs wurden 8, neueren 14 weitere Betriebsjahre zugebilligt. Den AKW-Betreibern gefiel das. Schließlich hatten sie an diesem Regierungsbeschluss tatkräftig mitgewirkt.

4. Akt – der Ausstieg vom Ausstieg vom Ausstieg

Der Reaktorunfall in Fukushima vom 11.03.2011 führte der Welt ein weiteres Mal vor Augen, dass die Atomkraft eine Hochrisikotechnologie ist. Kanzlerin Merkel prägte angesichts dieses zweiten verheerenden Supergaus folgende skurrile Satzkombination:

Ich finde, an einem solchen Tag darf man nicht einfach sagen, unsere Kernkraftwerke sind sicher. Sie sind sicher…“

Wir sollten uns merkwürdige Aussagen wie diese tatsächlich merken und uns immer wieder in Erinnerung rufen. Sie sind eindeutige Belege für die Plan- und Hilflosigkeit interessengebundener statt sachbezogener Politik.

Immerhin bewies die Merkel-Regierung mit Ihrer Entscheidung, einen zweiten Atomausstieg in ein Gesetz zu gießen, dass Sachpolitik möglich ist. Demnach sollten bis Ende 2022 alle deutschen AKWs vom Netz gehen. Das hätte auch beinahe funktioniert.

5. Akt – AKW – Streckbetrieb oder lieber gleich Wiederaufführung des 3. Aktes?

Ein anderer Aspekt interessengetriebener Politik war die durch die EU beschlossene Taxonomie, durch die Erdgas und Atomkraft großinvestorenfreundlich als nachhaltig und ökologisch eingestuft wurden. Erinnern Sie sich? Wenn nicht, sollten Sie die alten Parolen jetzt noch einmal nachlesen. Zumindest die eine, aber wichtigere Säule der Taxonomie (Erdgas) hat Putin mit seinem Angriff auf die Ukraine zum Einsturz gebracht. Dabei hatte die gehobene europäische Energiewirtschaft vor allem das preiswerte russische Gas fest als sichere Bank für den Erhalt des allgemeinen und ihres besonderen Wohlstands eingeplant.

Der Ukraine-Krieg ist allerdings, obwohl gerne anders dargestellt, nicht der alleinige Grund für die aktuelle, verfahrene Situation. Die französischen AKW sind derzeit nicht in der Lage, die Strommenge der Vorjahre zu liefern. Daher müssen andere Länder, insbesondere der größte Anrainer Deutschland einspringen, um die bestehende Lücke zu decken. Als Lückenfüller sind Gaskraftwerke technologisch die beste Lösung. Man muss nur über genügend Brennstoff verfügen…

Wären Europa im Allgemeinen sowie Deutschland und Frankreich im Besonderen, Stand 2022, etwas weiter beim Ausbau der Erneuerbaren gewesen, befänden wir uns heute nicht in der misslichen Gas-Abhängigkeit. Das sollten sich vor allem die deutschen Politiker hinter die Ohren schreiben, die genau für diese Abhängigkeit verantwortlich sind und nunmehr dennoch hinsichtlich der Weiterführung der Atomkraft völlig ungerührt Morgenluft wittern.

Die Ideenbreite reicht vom Streckbetrieb und längerfristigen Weiterbetrieb bestehender über die Reaktivierung noch vorhandener AKW bis zum Bau neuer Anlagen. Verkauft werden uns diese Ideen als Verantwortungsbewusstsein im Sinne der Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit. Im Grundsatz folgen sie jedoch dem bewährten Muster streng fokussierter Klientelpolitik.

6. Akt – das Machtwort eines Vergesslichen

Bundeskanzler Scholz hat nunmehr kraft seiner Richtlinienkompetenz verfügt, die drei noch in Betrieb befindlichen AKW bis zum 15.04.2023 in den Streckbetrieb zu versetzen. Wirtschaftsminister Habeck hatte dem bezüglich der zwei süddeutschen Kraftwerke bereits zugestimmt. Dass die von den Grünen und der SPD vor der Landtagswahl in Niedersachsen als sicher verkündete Abschaltung des AKW Emsland nun doch nicht am 31.12.2022 stattfindet, ist für manche glatter Wortbruch. Wir hatten genau das jedoch erwartet. Deshalb haben wir in unserem Beitrag vom 23.09.2022 die Leistung aller drei verbliebenen AKW prognostiziert und sind im Ergebnis auf ca. 2,4 GW gekommen. Dies entspricht nicht ganz 3% der üblichen Höchstbelastung des deutschen Netzes. Nun sind 3% kein wirklich substanzieller Beitrag, der alle Engpässe überwindet. Andererseits könnte das Kompensieren von 3% Spitzenbelastung durchaus helfen, einige Gaskraftwerke am Produzieren und Vermarkten teuren Stroms zu hindern. Inwieweit Preisdämpfung durch zusätzlichen Grundlast-Atomstrom tatsächlich stattfindet, hängt von den handelnden Marktakteuren ab, deren Interesse an niedrigeren Preisen begrenzt sein dürfte.

Alles in allem: Hier hat Kanzler Scholz im Ansatz sachpolitisch richtig gehandelt und gleichzeitig die explosive Stimmung zwischen den Ampel-Koalitionären zumindest temporär entschärft. Neuwahlen in der aktuellen Situation – nein danke.

Hoffentlich kann sich Herr Scholz im nächsten Frühjahr noch an sein Wort erinnern, das u.a. wenigstens implizit einschließt:

Am 15.04.2023 ist endgültig Schluss.

Dann wäre auch das jahrelange Kasperletheater um die deutsche Atomkraft beendet. Wer daran glaubt, hat verpasst, dass die Union den 7. Akt bereits probt. Außerdem enthält Scholz’ Machtwort keine explizite Aussage, wie es nach dem 15.04.2023 weiter geht. Der Streckbetrieb des Streckbetriebs wird ohne neue Brennstäbe jedoch technisch schwierig. Aber wer weiß, welche bislang gut gehüteten Geschäftsgeheimnisse uns im Frühjahr 2023 offenbart werden?

7. Akt – Aufführung sicher, Inhalt ungewiss.

Das Kasperletheater wird weiter gehen – in dem Punkt sind wir uns ganz sicher. Lindner und seine FDP in der Hauptrolle, Merz und die Union als das Krokodil*. Sie werden uns weiterhin mit allerlei altbackenen Ideen zum Thema erfreuen und Tränen* über die angeblich nicht tragfähigen Alternativen auf der Basis erneuerbarer Energiequellen vergießen.

Putin als Teufel, der uns und Frankreich aber weiterhin zuverlässig mit neuen Brennstäben versorgt.

Als Nebenrolle Habeck und die Grünen als guter Seppel, der gerne Kröten schluckt. Für Scholz und die SPD haben wir keine Rolle finden können, weil im klassischen Kasperletheater schließlich alle Mitwirkenden irgendwie aktiv sind.

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